Wie Istanbul

ISTANBUL TALES 20.04.2014

Napoleon soll einmal gesagt haben, dass, wenn es auf der Welt nur ein Land geben würde, dann wäre Istanbul wohl die Hauptstadt. Immerhin drei Weltreichen diente die Stadt in ihrer 2600 Jahre alten Geschichte als Zentrum, aber in diesen Tagen ist die Stadt am Bosporus noch nicht einmal Hauptstadt der Türkei (das ist bekanntlich Ankara). Dafür aber europäische Kulturhauptstadt 2010. Samt aufmerksamer und türkischkundiger Begleitung machte ich mich in diesem Frühjahr auf, die einzige Metropole der Welt zu erkunden, die sich auf zwei Kontinenten gleichzeitig befindet. Wir kamen zurück ins dörfliche Berlin, beeindruckt von der Größe, Anmut und der Freundlichkeit Istanbuls und möchten davon berichten. Vorhang auf für das kleine Istanbul ABC.

A wie Alkohol

Seit dem Herbst 2013 gilt das neue Anti-Alkohol-Gesetz in der Türkei. Das heißt für Istanbul: Kein Alkohol-Verkauf in Geschäften und Supermärkten nach 22 Uhr und noch viel drastischer: Kein öffentlicher Konsum von Alkohol außerhalb von Bars und Clubs. Bis auf die Gegend rund das alternative Szeneviertel in Kadiköy wird sich auch daran gehalten: Anders als in Berlin läuft in Istanbul niemand mit einer Bierpulle durch die Straßen. Dafür gibt es ja den (—>) Tee

B wie Bosporus

I live by the river – Istanbul wird geprägt durch den „Schlund“, der das Schwarze Meer und das Marmarameer verbindet und nebenbei Europa und Asien trennt. Mit einer Breite von 700 bis 2500 Metern ist der Bosporus ein gewaltiger Anblick, auf dem des nachts die mächtigen Brücken ein (—->) Lichtspektakel darbieten. Obwohl der Bosporus neuerdings durch einen Bahntunnel durchquert ist, fahren die meisten Istanbuler per Schiff zum normalen Nahverkehrstarif von einem Ufer zum anderen. Für umgerechnet 70 Cent kommt man in Istanbul von Europa nach Asien (und andersherum).

Bootsanlegestelle am Bosporus

Bootsanlegestelle am Bosporus

C wie Couchsurfing

In Istanbul warten über 50.000 Couchsurfing-Hosts auf Neuankömmlinge aus aller Welt (deutlich mehr als in Berlin). Auch der Autor dieser Zeilen hat so die Stadt erkundet und war begeistert von der sprichwörtlichen (—>) Gastfreundschaft der Türken. Eigenes Zimmer, freies Wlan, Insider-Tipps und Integration in den Freundeskreis der Gastgeber – Istanbul als fremdenfreundliche Stadt im Umbruch ist prädestiniert für diese Art des Reisens.

D wie Dolmuş

Wer in der 14-Millionen-Metropole Istanbul ohne eigenes Auto oder Fahrrad mobil sein möchte, bekommt nachts erst einmal ein Problem: Anders als in Berlin gibt es in Istanbul nämlich keinen Nahverkehr nach Mitternacht. Die Lösung: Der Dolmuş, eine Art Sammeltaxi, dass zwar auf festen Routen mit Haltestellen unterwegs ist, aber erst losfährt, wenn genügend Fahrgäste an Bord sind (meistens handelt es sich um Minivans mit 7-9 Sitzplätzen). Da aber so gut wie alle Nachtschwärmer in Istanbul die zahlreichen gelben Minivans nutzen, dauert das nicht lange und man freut sich über schnelle Verbindungen zum günstigen Preis. Anders als beim Taxi ist hier der Fahrpreis von vorne herein festgelegt und so kommt man nachts für 2-3 EUR schnell von einem Ende der Stadt zum anderen.

E wie Erdoğan

Recep Tayyip Erdoğan ist ein türkisches Phänomen. Erst war er Oberbürgermeister von Istanbul, dann saß er im Gefängnis. Er gründete eine neue Partei und ist seit 12 Jahren  demokratisch gewählter Ministerpräsident mit despotischen Zügen. Sein Konterfei hängt in der halben Stadt und wenn ihm das Internet zu sehr auf die Pelle rückt, schaltet er kurzerhand Twitter und Youtube ab. In der jungen Generation Istanbuls ist er verhasst, unter anderem wegen der neuen (—>) Alkoholgesetze und der Islaminisierung des Landes. Er gilt als korrupt, ist Anhänger der Todestrafe und hält Abtreibung für Mord. Die gewaltsam niedergeschlagenen (—>) Proteste im Sommer 2013 auf dem Taksim-Platz und im Gezi-Park richteten sich hauptsächlich gegen seine Person (er selber bezeichnete die Demonstranten als Abschaum). Dennoch: Ein Großteil der türkischen Gesellschaft sieht Erdoğan als verantwortlich für den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes. Überall in Istanbul wird gebaut, die Stadt bekommt zum ersten Mal ein richtiges (—>) U-Bahnnetz und die Sozialstandards wurden verbessert. Bei den letzten Wahlen im April 2014 erreichte Erdoğans Partei AKP einen großen Wahlsieg in der Türkei und auch in Istanbul. Meinungsfreiheit und Menschenrechte kann man eben nicht essen und so spaltet er weiter das Land in zwei Generationen.

F wie Fußball

Ganz Istanbul ist fußballverrückt. Es gibt drei große lokale Vereine (Beşiktaş, Fenerbahçe und Galatasaray) und wenn ein Stadtderby wie in den Tagen des Besuchs des Autors dieser Zeilen ansteht, gibt es kein anderes Gesprächsthema. Während der (—>) Proteste auf dem Taksim-Platz solidarisierten sich viele der an sich unpolitischen Anhänger der Vereine mit den Demonstranten und wurden als eine Art Schutzmacht des Protests wahrgenommen.

Stadtderby: Siegestrunkene Galatasaray-Anhänger am Taksim-Platz.

Stadtderby: Siegestrunkene Galatasaray-Anhänger am Taksim-Platz

G wie Gastfreundschaft

„Es ist für uns eine Ehre, wenn Besucher aus aller Welt in unsere Stadt kommen“, erklärte mir ein Istanbuler. Und tatsächlich: Wildfremde Menschen stoßen mit Dir in der Bar an, fragen wo Du herkommst und helfen Dir, wenn Du Dich verlaufen hast. Händler und Taxifahrer wollen mit Touristen Geschäfte machen, da ist stets ein bisschen Vorsicht geboten. Aber abgesehen davon habe ich noch nie einen Ort erfahren, an dem eine so grundsätzlich offene und freundliche Stimmung gegenüber Besuchern vorherrschte. Was für ein angenehmer Kontrast zum albernen und spießigen Touriebashing im misanthropischen Berlin.

H wie Hügel

Wer Istanbul erkunden möchte, muss gut zu Fuß sein… die Stadt ist eine einzige Hügellandschaft mit langen Treppen, steilen Gassen und sogar zwei Seilbahnen.

Auf und ab und mittendrin eine kleine Bar.

Auf und ab und mittendrin eine kleine Bar

I wie İstiklal Caddesi

Wer glaubt, Fußgängerzonen seien verkümmerte Resterampen der Innenstadt, hat die İstiklal Caddesi („Unabhängigkeitsstraße“) noch nicht erlebt. Tagsüber drängen sich auf dieser vom Taksim-Platz abgehenden zentralen Shoppingmeile zigtausende Kaufwütige zwischen Straßenmusikern, Essständen und einer historischen Straßenbahn, nachts sieht das Bild genauso aus, nur dass es jetzt die Tanzwütigen sind, die die İstiklal Caddesi in Beschlag genommen haben. Ein Großteil des Istanbuler Nachtlebens findet in den kleinen Gässlein rund um die zentrale Fußgängerzone statt, und so ist es in der İstiklal Caddesi zu jeder Tag- und Nachtzeit voller als auf jeder Fanmeile. Definitiv nichts für Menschen mit Platzangst. Für alle anderen ein reizüberflutendes Erlebnis.

İstiklal Caddesi: Allabendlicher Ausnahmezustand.

İstiklal Caddesi: Allabendlicher Ausnahmezustand

K wie Katzen & Hunde

Eines fällt im Istanbuler Stadtbild sofort auf: Die vielen frei herumlaufenden Katzen und Hunde. Letztere (von der Stadtverwaltung übrigens gegen alle möglichen Krankheiten geimpft) verbringen die Tage schlafend und dies gerne mitten unter den Menschen, um dann des nachts um die Häuser zu ziehen. Katzen trifft man ebenfalls überall in Istanbul, gerne auch an Orten, an denen man nicht damit rechnet, wie z.B. ganz entspannt auf dem Barhocker einer Szenekneipe oder in der Umkleide einer Boutique.

Tagsüber eher komatös: Wilde Hunde in Istanbul.

Tagsüber eher komatös: Wilde Hunde in Istanbul

 

L wie Licht

Um die ganze Schönheit Istanbuls erfassen zu können, muss man die Stadt einmal bei (–>) Nacht gesehen haben. Die mächtigen Bosporus-Brücken erstrahlen dann in wechselnden bunten Lichtspielen, die Häuser in den engen Strassen und Gassen verschmelzen zu einem Lichtermeer und das Ufer des Marmarameer leuchtet im hellgelben Schein.

Farbenprächtig: Die Erste Bosporus-Brücke

Farbenprächtig: Die Erste Bosporus-Brücke

 

M wie Menemen

Da wohne ich seit schon immer in Berlin, einer Stadt voller türkischer Lebens- und Esskultur und niemand hat mit etwas von Menemen erzählt. Menemen ist wie Rührei, nur besser. Es enthält Eier, gekochte Tomaten, ganz viel grüne Paprika oder Pepperoni und Zwiebeln, dazu diverse Gewürze wie schwarzen und roten Pfeffer sowie Oregano. Wer einmal Menemen probiert hat, möchte nur ungern zum faden und langweiligen deutschen Rührei zurück. Gibt’s in jedem Café in Istanbul und kostet in der Regel 1-2 EUR. Kann man aber auch ganz einfach selber machen.

N wie Nacht

Die wahre Schönheit Istanbuls kommt heraus, wenn die Sonne langsam untergeht und die Nacht samt schönstem Farbenspiel über die Stadt hereinbricht. Istanbul – Eine Stadt für Tag & Nacht.

Ausblick in Kadiköy in Richtung stillgelegtem Bahnhof Istanbul Haydarpaşa

Ausblick in Kadiköy in Richtung stillgelegtem Bahnhof Istanbul Haydarpaşa

P wie Park & Proteste

Im Sommer 2013 kam es in der Istanbuler Innenstadt rund um den Taksim-Platz zu dauerhaften Protesten gegen den Abriss des als (—>) Weltkulturerbe qualifizierten Emek-Kinos und gegen die Abholzung von Bäumen im benachbarten Gezi-Park zwecks Errichtung eines Einkaufscenters in Stile einer alten Kaserne. Für viele Tage wurde der Taksim-Platz zur Zeltstadt der Protestler und eine neue, sich für Menschenrechte und Demokratie einsetzende Generation formierte sich, die Generation Gezi. Am Ende lies Ministerpräsident (—>) Erdoğan den Platz von der Polizei stürmen, es gab hunderte Verletze und tausende Festnahmen. 2014 ist von diesen Ereignissen des letzten Jahres nichts zu spüren. Die Bäume und das alte Kino stehen noch, öffentliche Demonstrationen finden eher in anderen türkischen Städten statt. Und doch fällt etwas auf: Die Polizei-Präsenz rund um den Taksim ist enorm. Ein Wasserwerfer steht mitten in der Fußgängerzone der angrenzenden (—>) İstiklal Caddesi, im Park ist eine kleine Polizei-Station und überall in der Stadt hängen (—>) Überwachungskameras.

Erkennungsmerkmal der Generation Geiz: Die Gasmaske im Wohnzimmer.

Erkennungsmerkmal der Generation Gezi: Die Gasmaske im Wohnzimmer

R wie Raki

Als wir durch das Istanbuler Nachtleben stolperten, landeten wir irgendwann und irgendwie bei einer der vielen festlichen Rakıtafeln. Zusammen mit frischem Obst und kleinen Vorspeisen wird hier der Genuss des türkischen Nationalgetränks Raki in großen Gruppen zelebriert, gerne auch über Stunden. Der kleine Schnaps schmeckt lakritzähnlich, wird aber nicht pur, sondern verdünnt mit Wasser getrunken und mundet so auch noch nach dem zehnten Glas. Zu den Rakıtafeln gehört traditionelle Musik, gerne auch mit Tanz.

S wie Simit

Berliner kennen ihn schon, den Simit, den leckeren Sesamring, den es auch in der deutschen Hauptstadt an jeder Ecke zu kaufen gibt. In Istanbul wäre „an jeder Ecke“ noch eine Untertreibung. Überall in der Stadt werden die Simits zu jeder Tag- und Nachtzeit angeboten, im Café zu allem gereicht und staut sich der (—>) Verkehr auf der Stadtautobahn, sind sofort Simitverkäufer zur Stelle und laufen durch die Autoreihen. Der Sesamring ist so etwas wie das türkische Croissant, nur dass er knackiger, gesünder und billiger (30-40 Cent je Ring) ist.

Simitstand in der İstiklal Caddesi

Simitstand in der İstiklal Caddesi

 T wie Tee

Zu den unzähligen mobilen (—>) Simitverkäufern gesellen sich die ähnlich zahlreichen Teedealer. Tee wird eigentlich immer und überall in Istanbul getrunken. Wahrscheinlich als Ersatzdroge zum auf den Straßen verbotenen (—>) Alkohol, kommt man kaum ohne 10 Gläser Schwarztee durch den Tag. Und während der strenge türkische Mokka Geschmackssache ist, macht der kleine Tee-Kick für zwischendurch schnell süchtig.

Teeverkäufer in Istanbul

Teeverkäufer in Istanbul

U wie U-Bahn

Istanbul ist eine Stadt mit 14 Millionen Einwohnern auf engstem Raum. Die Straßen sind eng und immer verstopft, mit dem Fahrrad sind nur Lebensmüde unterwegs und fast der gesamte Nahverkehr wird mit stinkenden Bussen befördert. Hier könnte eine U-Bahn wohl Sinn machten, dachten sich die Istanbuler Stadtplaner, und so gibt es seit dem Jahr 1989 eine richtige Metro in der Stadt (eine Art Vorläufer, nämlich eine unterirdische kurze Standseilbahn am Taksim-Platz, gibt es hingegen schon seit dem Jahr 1875). Nun ist Istanbul eine Stadt am Meer, das zusätzlich noch als höchst erdbeebengefährdet gilt. Entsprechend aufwendig sind die U-Bahn-Bauwerke. Gefühlte Hundert Meter geht es in die Tiefe, der Weg zu den Bahnsteigen dauert meist länger als die Fahrt selber. Um sich ein Bild vom Bauboom der (—>) Erdoğan-Türkei zu machen: Aktuell umfasst das Metronetz 87 km in Istanbul. In fünf Jahren sollen es über 400 Kilometer sein. Vielleicht fahren die Bahnen bis dahin ja auch mal nach Mitternacht.

Verbindungen in der Tiefe: Tunnel zum U-Bahnhof Taksim.

Verbindungen in der Tiefe: Tunnel zum U-Bahnhof Taksim

 

Ü wie Überwachung

In so gut wie jeder belebten Straße und Gasse befinden sich riesige von der Polizei aufgestellte Überwachungskameraanlagen – in Istanbul fühlt man sich stets beobachtet und wird zigmal am Tag aufgezeichnet. Freiheit stirbt mit Sicherheit.

Einer von vielen hundert Überwachungsmasten in der Innenstadt.

Einer von vielen hundert Überwachungsmasten in der Innenstadt

 

V wie Verkehr

Als Deutscher mit übertriebenden Regelvorstellungen hat man es im Istanbuler Stadtverkehr zuerst nicht einfach, denn es scheint hier gar keine Regeln zu geben. Ampeln werden noch nicht einmal als unverbindliche Verkehrsempfehlung wahrgenommen, sondern komplett ignoriert, es wird durchgehend gehupt und es fährt der, der Platz hat. Auch wenn es eigentlich gar keinen Platz gibt. Um eine Straße zu überqueren, braucht es viel Mut, denn für Fußgänger hält in Istanbul kein Auto an. Und wer hier mit Fahrrad unterwegs ist, hält Basejumpen wahrscheinlich für ein langweiliges Hobby.

Stressfrei durch Istanbul kommen: Kleines Privatboot am Goldenen Horn.

Stressfrei durch Istanbul: Kleines Privatboot am Goldenen Horn

 

W wie Weltkulturerbe

Kuppeln, Türme, Minarette: 2600 Jahre Geschichte haben ihre Spuren in der Silhouette der Stadt zwischen Orient und Okzident hinterlassen. Istanbuls Architektur ist von antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Baustilen geprägt. Daher zählt die prächtige Altstadt seit 1985 zum Weltkulturerbe. Absolut sehenswert.

Blick in die Sultan-Ahmed-Moschee

Blick in die Sultan-Ahmed-Moschee

Z wie Zuckerschock

In den kleinen Gassen der Innenstadt gibt es sie überall: Konditoreien mit einem riesigen Angebot an leckersten Baklavas, jenen mit verschiedenen Nüssen gefüllten zuckrigen Blätterteig-Küchlein, die in flüssigem Zuckersirup eingelegt werden. Schmeckt wie knuspriger Zucker in Zuckersauce. Dazu wird ein kräftiger und bitterer Mokka getrunken. Unglaublich lecker, aber wie bei jedem Rausch folgt danach der Kater: Nachdem wir innerhalb weniger Minuten die empfohlene Jahresmenge an Zucker zu uns genommen haben, fühlten wir uns so agil wie eine fette Raupe und fragten uns, wie es die Istanbuler schaffen, nicht kollektiv an Diabetes zu erkranken.

ISTANBUL-GALERIE

 

MerkenMerken

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert