Vier Tage im Juni

KOPENHAGEN TALES 22.06.2014

Auf Hedo-Hippie-Klassenfahrt

Es ist ein vorsommerlicher Donnerstag, als ich in Kopenhagen ankomme. Nur ein paar Schritte vom Hauptbahnhof entfernt, und schon befinde ich mich mitten in den Ausläufern des Kopenhagener Distortion Festivals, das vom 4. bis 8. Juni diesen Jahres die Straßen und Plätze der dänischen Hauptstadt zum Beben bringen sollte. Seit 1998 gibt es diese Veranstaltung bereits, bei der tagsüber jeweils ein Bezirk der dänischen Hauptstadt in eine Mischung aus Kreuzberger Myfest und technoider Fête de la Musique verwandelt wird und des Nachts über 100 Clubs ihre kostenpflichtigen Türen öffnen.

Für Party und Musik ist für mich jetzt aber erst einmal keine Zeit. Ich fahre weiter zu den Refshaleøen, ein Lagerhallen- und Industriebrachenkomplex im alten Kopenhagener Hafen. Hier trällerte sich noch vor einigen Wochen eine gewisse Conchita Wurst in die Ohren von Millionen Fernsehzuschauern, doch vom Eurovision Song Contest ist mittlerweile nur noch ein schief hängendes Banner an der riesigen Veranstaltungshalle übrig. Dafür herrscht rundherum geschäftiges Aufbautreiben, auch die Aktivisten der „Kultstätte Keller“ aus Berlin-Neukölln, die in diesem Jahr mit der „Fire Truck Stage“ eine eigene Bühne zur Distortion beitragen und Ziel meiner Reise sind, betätigen sich bereits fleissig am Hämmern, Sägen und Dekorieren. Knapp 50 Berliner Musiker, Veranstaltungstechniker sowie Licht-, Ton- und Hedonismus-Spezialisten hatten sich in mehreren Bussen und ausrangierten Feuerwehrautos auf dem Weg nach Kopenhagen gemacht, um sowohl am Freitag als auch zur ebenfalls im Hafen stattfindenden Abschlußveranstaltung am Samstag eine kunterbunte Bühne zu stellen. Davon ist an diesem Donnerstag Abend aber noch nicht viel zu sehen, zu sehr befindet sich das Areal um die beiden knallroten ehemaligen Feuerwehrmobile noch im Aufbau. Ich komme gerade noch rechtzeitig zum gemeinsamen Team-Essen und erlebe meine erste Überraschung: Die Kultstätte Keller, die wert darauf legt, dass man sie nicht als profanen Club aus Berlin tituliert, hat ihren Küchen-Spezialisten mit nach Kopenhagen genommen und so gibt es hier jeden Tag feinste vegetarische Leckereien. Die Zeit auf der Distortion fängt also schon einmal gut an…

Als ich am Freitag Morgen aus meinem Zelt krieche und mir die kommende Bühne bei Tageslicht anschaue, erlebe ich die nächste Überraschung. Bunte Tücher flattern über das Gelände, aus Holzresten wurde eine wunderschöne Mate-Bar gebastelt und Teile des ehemaligen Eurovision-Banners dienen mittlerweile als Sichtschutz hinter der Bühne. Wer glaubt, mit wildbunten Berliner Partyhedonisten sei kein Staat zu machen, sieht sich getäuscht. Ich lerne den Mit-Organisator Nils kennen, der es in einer Mischung aus Dompteur, Kindergärtner und Dirigent geschafft hat, einen wilden hedonistischen Haufen in ein produktives Kollektiv zu verwandeln. Mir kommt eine Textzeile aus dem alten Hippie-Schlager „Was wollen wir trinken“ in den Kopf: „Und das wird keine Plackerei / wir schaffen zusammen / sieben Tage lang / ja schaffen zusammen, nicht allein“. Und, ja, Fässer werden hier auch schon gerollt…

Freitag Nachmittag, es geht los. Das eben noch leere Areal füllt sich schlagartig mit Menschen, die Musik beginnt zu spielen, die Stimmung ist aufgekratzt. Da die meisten Berliner Keller-Aktivisten einschließlich des beschreibenden Ekvidisten bunt geschminkt über das Hafenareal laufen, hagelt es Küsschen und Umarmungen des dänischen Publikums. Feels like Karneval in Köln… Ich schaue mir das übrige Festival-Gelände an und mir fällt ein großer offener Schiffscontainer ins Auge, aus dem ohrenbetäubender und sehr, sehr schneller Techno ertönt. „Tekno-Tunnel“ heißt dieser verstörende Ort und wer es darin länger als fünf Minuten aushält, ist entweder sehr hartgesotten oder taub oder beides. Da lobe ich mir die liebevolle Fire Truck Stage, die mit tollem Licht, vielen schönen Details, T-Shirt-Stand und Uschi-Uschi-Schminkstation ein Stück Berliner Festival-Kultur nach Kopenhagen gebracht hat. Gegen 22 Uhr ist damit heute aber Schluss, die Party wandert weiter in eine benachbarte überdimensionale Kletterhalle, ich hingegen geselle mich ins große Beduinenzelt der Keller-Hedonisten, das als Gemeinschafts- und Arbeitszelt den sozialen Mittelpunkt der Gruppe abseits der Bühne darstellt. Nachdem an diesem Abend dem øl (das örtliche Bier) sehr zugeneigte  Zeitgenossen über die Stoffbahn-Dekoration der Fire Truck Stage auf ein benachbartes Schiff geklettert und von dort herunter gesprungen sind, muss die Bühne für den kommenden finalen Party-Samstag umgestaltet werden. Zwischen Essensresten und Gitarren-Hippies wird hier jetzt wieder genäht, gebastelt und gemalt. In einer weiteren Ecke werden Märchen vorgelesen und später wird noch eine spontane Hiphop-Jam-Session intoniert. Das Leben klingt gut. Ich freue mich auf den morgigen Samstag, anders als heute soll es eine Nacht mit Open-End werden, denn die Final Party als Höhepunkt jeder Distortion geht solange, bis niemand mehr stehen oder tanzen kann.

Samstag Mittag, die Ruhe vor dem Party-Sturm. Ein weiteres Problem ist aufgetaucht: Es fehlt an Eis für die Longdrinks. Normalerweise würde man jetzt wahrscheinlich einfach einen entsprechenden Lieferdienst kontaktieren, aber Berliner Festival-Hedonisten lösen solche Aufgaben anders. Kurzerhand geht es mit einem zum Wohnmobil umgebauten alten Mercedes-Bus in die Kopenhagener Innenstadt und es werden sämtliche Bars und Clubs zwecks Eisgewinnung gegen Spende abgeklappert. Da der Bus ein Problem mit dem Anlasser hat, geschieht dies mit laufendem Motor, dessen die engen Kopenhagener Gassen einnebelnden Rauchschwaden den verstörenden Anblick der seit Tagen ungeduschten und immer noch geschminkten Berliner Festival-Hippies nur notdürftig verdecken. Angesichts von soviel Party-Authentizität ist das notwendige Eis natürlich schnell zusammengesammelt. Zurück auf dem Festival-Gelände erfreuen wir uns am knalligen Sonnenschein, in dem sich die so eben aus Berlin angekommenden Musiker des famosen Electronic Swing Orchestras einen letzten Schlaf vor der großen Sause gönnen.

Wenige Stunden später platzt das Gelände rund um die Refshaleøen aus allen Nähten und die Wodka-Mate fliesst in Strömen. Die Nacht bricht herein, das eben noch sonnenschläfrige Swing Orchestra hat gerade mit handgemachter Musik einen wohlklingenden Kontrapunkt zum Ums-Ums-Ums der anderen Bühnen gesetzt und dichte wie gedrängte dänische Massen tanzen vor den roten Feuerwehrautos zu den Klängen der Berliner Keller-DJs. Dazu taucht ein begleitendes Feuerwerk den Kopenhagener Himmel in ein Farbenmeer, Konfetti und Seifenblasen fliegen durch die Nacht und das Accessoir des Lichtschwerts hat es auch bis nach Dänemark geschafft.

Als der nächste Morgen hereinbricht, ist die Tanzfläche der Fire Truck Stage immer noch gut gefüllt. Die Party hier sei jetzt zu Ende, heißt es. Aber man könne eine Afterhour außerhalb des Geländes zelebrieren. Kurzerhand wird eines der Feuerwehrautos in Bewegung gesetzt und wie einst die Love Parade ’89 auf dem Kurfürstendamm zieht der Feiertrupp nun unter lauter Beschallung durch das Kopenhagener Hafengelände. War die Keller-Stage auf der Distortion bis dahin einfach nur eine schöne Electro- und Liveband-Bühne, wird es an dieser Stelle legendär. Durchfeierte und glückliche Tänzer, die warmen Strahlen der aufgehenden Sonne, noch mehr Seifenblasen und dazu links und rechts das schroffe Gelände des alten Kopenhagener Hafens mit den riesigen Lagerhallen bilden ein einzigartiges Szenario.

Es sind genau diese Bilder, weswegen ich mich auf den Weg nach Kopenhagen gemacht habe und ich werde nicht enttäuscht. Dass die Afterhour-Location ein unzugänglicher Hügel ist und dass mir eine schwere Zapfanlage für mittlerweile leere Bierfässer beim Hochtragen auf den Fuß fällt – geschenkt angesichts der Schönheit des Augenblicks. Ich will in meine Tasche greifen, weil ein Look How Beautiful Sticker selten so gepasst hätte – aber wo ist eigentlich meine Tasche? Ich sollte sie später wiederfinden, es gehört eben zu jedem guten Festival, das man seine Habseligkeiten verliert. Sonntag Mittag, in Berlin beginnt jetzt der Karneval der Kulturen. Wir hatten hier gerade schon unseren kleinen Umzug und ich bin glücklich, ein Teil davon gewesen zu sein. Die Kräfte verlassen mich, es wird Zeit für den Schlafsack.

Sonntag Nachmittag. Nach und nach erwachen die Glitzer-Akteure der Keller-Bühne, irgendwann ist anscheinend jede und jeder in sein Zelt eingekehrt. Unter dem Vorwand, wir würden jetzt alle zum Baden fahren, lockt Nils den müden Haufen zu den Resten der menschenleeren Bühne und was in vielen Stunden mühsam entstand, wird jetzt kollektiv in kurzer Zeit zerlegt. Als sich die ganze Gruppe später am Lagerfeuer wiederfindet, macht der Begriff der Hedo-Hippie-Klassenfahrt die Runde. Es beginnt der klassische letzte Abend eines kollektiven Erlebnisses, an dem man das Vergangene resümiert, verfeiert ins Feuer schaut oder die letzte Chance wahrnimmt, einem über die gemeinsame Zeit liebgewonnenen Menschen näher zu kommen. In den müden Augen der Keller-Aktivisten strahlt das befriedigende Gefühl durch, gemeinsam etwas Großartiges auf die Beine gestellt zu haben. Wenn sich Spaß, Kreativität und Professionalität küssen, kann Außergewöhnliches entstehen.

 Ein kleines Ekvidi-Video über die Vier Tage im Juni findest Du hier.

GALERIE:

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